Vom Funktionieren zum Fühlen – Wege zurück zu dir selbst
Der Wecker klingelt. Du stehst auf, machst Kaffee, checkst Mails, bringst die Kinder zur Schule, arbeitest, erledigst, organisierst. Alles läuft – irgendwie. Doch während du dich durch den Tag bewegst, spürst du dich kaum. Es funktioniert. Aber du? Du funktionierst mit.
Vielleicht kennst du dieses Gefühl: Dein Alltag ist voll, deine To-do-Liste noch voller – und irgendwo dazwischen ist das, was dich eigentlich ausmacht, leiser geworden. Lachen, Staunen, Leichtigkeit. Du kannst alles managen, aber das, was dich lebendig fühlen lässt, scheint irgendwo auf der Strecke geblieben zu sein. Viele Menschen erleben genau das – ohne dass es ihnen bewusst wird. Wir sind so sehr darauf trainiert, zu leisten, zu halten, zu schaffen, dass wir vergessen, innezuhalten. Funktionieren wird zur Gewohnheit, manchmal sogar zur Überlebensstrategie. Doch je länger wir im Funktionsmodus bleiben, desto mehr entfernen wir uns von uns selbst: von unserem Körper, unseren Gefühlen, unserer inneren Stimme. Und doch: Dieser Moment, in dem du spürst, dass etwas fehlt, ist kein Zeichen von Schwäche. Es ist ein Weckruf. Ein leiser, aber klarer Hinweis darauf, dass etwas in dir wieder gehört werden möchte.
„Manchmal müssen wir still werden, um uns selbst wieder zu hören.“
Dieser Artikel ist eine Einladung, wieder in Kontakt zu kommen – mit dir, mit deinem Körper, mit deinem Atem, mit deinem inneren Rhythmus. Nicht, um alles zu verändern. Sondern um dich selbst wieder zu fühlen.
Der Körper ist oft der Erste, der sich meldet, wenn die Seele leiser wird.
Vielleicht spürst du eine ständige Müdigkeit, obwohl du ausreichend schläfst. Vielleicht sind da Spannungen im Nacken oder in der Brust – oder der Atem fühlt sich flach an, als würde er nur bis zur Hälfte gehen. Der Körper weiß, was das Herz vergessen hat: dass Leben Bewegung braucht, Ein- und Ausatmen, Fühlen und Loslassen.
Auch emotional sendet etwas in uns Signale. Gereiztheit ohne klaren Grund, plötzliche Tränen, Rückzug – all das sind Ausdrucksformen einer inneren Stimme, die wieder gehört werden möchte. Diese Gefühle sind keine Störung. Sie sind Wegweiser. Sie zeigen uns, wo wir uns selbst verloren haben – und wo wir beginnen können, uns wiederzufinden.
Doch Fühlen braucht Mut. Denn wer fühlt, spürt auch Schmerz, Enttäuschung, Angst. Viele Menschen haben gelernt, ihre Empfindungen zu dämpfen, um handlungsfähig zu bleiben. Und das war – aus damaliger Sicht – oft richtig und notwendig. Doch irgendwann kommt der Moment, in dem das, was einst Schutz war, zur Trennung wird. Dann sehnt sich etwas in uns danach, wieder lebendig zu sein.
Fühlen ist der Schlüssel, weil es uns mit unserer Wahrheit verbindet. Es bringt uns zurück ins Jetzt – dorthin, wo das Leben wirklich stattfindet.
„Wenn du atmest, wie du lebst – und lebst, wie du atmest.“
Der Atem ist dabei ein stiller Lehrer. Er zeigt uns, ob wir festhalten oder loslassen, ob wir uns schützen oder öffnen. Bewusst zu atmen bedeutet, sich selbst wieder Raum zu geben – und die Lebendigkeit einzuladen, die vielleicht schon lange darauf wartet, wieder gespürt zu werden.
Es braucht keine komplizierten Übungen oder stundenlange Meditationen, um damit zu beginnen. Schon kleine, bewusste Momente im Alltag können eine Tür öffnen:
1. Der Atemmoment
Halte für einen Augenblick inne. Atme einmal ganz bewusst ein – spüre, wie die Luft einströmt, deine Brust sich hebt. Und dann atme langsam aus. Wiederhole das drei Mal, ohne etwas verändern zu wollen. Nur beobachten.
Vielleicht bemerkst du, dass du den Atem zurückhältst oder er flach bleibt – das ist okay. Es geht nicht ums „richtig“ Atmen, sondern ums Spüren, wie du gerade bist.
2. Der Körper-Check-In
Lege zwischendurch kurz die Hand auf dein Herz oder deinen Bauch. Frag dich: Wie fühlt es sich hier gerade an? Warm, eng, ruhig, kribbelnd, schwer? Diese einfache Geste bringt dich sofort in Verbindung mit deinem Körper und sendet gleichzeitig ein Signal von Fürsorge.
3. Die 10-Sekunden-Pause
Bevor du die nächste E-Mail öffnest, bevor du antwortest oder aufstehst – nimm dir zehn Sekunden Zeit, einfach zu sein. Bemerke deine Haltung, deine Füße am Boden, deinen Atem.
Manchmal verändert sich dadurch mehr, als du denkst.
Diese kleinen Anker sind keine Flucht aus dem Alltag, sondern eine Rückkehr in ihn – bewusster, langsamer, echter. Mit jedem Moment, in dem du dich selbst spürst, beginnst du, wieder im Körper statt nur im Kopf zu leben.
Erickson hätte vielleicht gesagt: „Es geht nicht darum, etwas zu tun – sondern darum, wahrzunehmen, was ohnehin schon geschieht.“ Denn genau dort, im achtsamen Beobachten, beginnt Heilung. Der Atem ist dabei wie ein Kompass. Er zeigt uns, wo wir uns anspannen, wo wir loslassen können, wo Leben wieder durch uns hindurchfließt.
Wenn du dich verlaufen hast – kehre zurück zum Atem. Er weiß den Weg.
Schreiben, um dich wieder zu spüren
Manchmal finden wir keinen Zugang zu uns, obwohl wir still werden. Gedanken kreisen, Gefühle bleiben vage – und es scheint, als läge eine feine Nebelschicht zwischen uns und unserem Inneren. Genau hier kann das Schreiben helfen. Nicht als literarische Übung, sondern als Form von Selbstbegegnung.
Beim Schreiben öffnen wir eine Verbindung zwischen Kopf und Herz. Worte fließen aus dem Inneren nach außen und werden sichtbar. Sie machen greifbar, was vorher formlos war – Gedanken, Erinnerungen, Sehnsüchte, Fragen.
Und während du schreibst, geschieht etwas Heilsames: Du beginnst, dich selbst wieder zu hören.
Schreiben ist wie Atmen mit Worten. Es darf roh, ehrlich und unvollkommen sein. Du brauchst keine schönen Sätze, kein Ziel, kein Publikum. Nur dich – und ein Stück Papier, das zuhört.
✍️ Eine kleine Schreibübung für dich
Setz dich an einen ruhigen Ort, nimm Stift und Papier. Atme ein paar Mal bewusst und schreib dann fünf Minuten lang – ohne nachzudenken, ohne zu stoppen – über das, was dich gerade bewegt. Vielleicht beginnt dein Satz mit:
„Im Moment fühle ich …“ Oder: „Etwas in mir sehnt sich nach …“
Lass die Worte kommen, wie sie wollen. Wenn dir nichts einfällt, schreib genau das: „Ich weiß gerade nicht, was ich schreiben soll …“ – und beobachte, was passiert. Meist öffnet sich nach wenigen Zeilen etwas, das du vorher nicht erwartet hast. Wenn du fertig bist, lies nicht sofort. Lege den Text beiseite, atme. Vielleicht magst du später nachspüren: Welche Worte klingen nach? Wo im Körper fühlst du etwas?
Warum Schreiben wirkt
In der Schreibtherapie nutzen wir Sprache, um innere Prozesse bewusst zu machen. Das, was im Unbewussten schwingt, darf eine Form finden. o wie in der Hypnotherapie Geschichten Türen öffnen, öffnet das Schreiben Zugänge – zu Erinnerungen, Gefühlen, Bildern, zu dem, was unter der Oberfläche wartet. Schreiben ist keine Analyse. Es ist ein Lauschen.
Ein Weg, dich selbst zu begleiten, ohne dich zu bewerten. Und jedes Mal, wenn du schreibst, entsteht ein kleines Stück Nähe – zu dir, zu deinem Körper, zu dem, was in dir lebendig ist.
Vielleicht merkst du irgendwann: Das Schreiben verändert nicht nur deine Worte, sondern auch deinen Atem. Es wird ruhiger, weiter, freier. Weil du dich selbst wieder spürst.
Vom Funktionieren ins Vertrauen: Eine neue Haltung zum Leben
Wenn wir beginnen, uns wieder zu spüren – durch Atem, Körper oder Schreiben – entsteht ein stiller Wandel. Es ist kein lauter Umbruch, kein „Neuanfang“ im äußeren Sinne. Es ist vielmehr ein leises Erinnern: daran, dass du mehr bist als deine Aufgaben, deine Rolle, deine Leistung. Aus dem reinen Funktionieren herauszutreten, heißt nicht, das Leben aufzugeben. Es bedeutet, ihm wieder zu begegnen – mit offenen Sinnen, mit einem wachen Herzen.
Und dieser Weg führt nicht über Kontrolle, sondern über Vertrauen.
Vertrauen darauf, dass dein Körper weiß, was er braucht.
Vertrauen darauf, dass dein Atem dich trägt, wenn du loslässt.
Vertrauen darauf, dass deine Gefühle dich nicht überfluten, sondern leiten.
In der systemischen Beratung sprechen wir oft von Selbstwirksamkeit – dem Bewusstsein, dass du selbst Einfluss auf dein Erleben hast. Erickson hat es in seiner Sprache ähnlich ausgedrückt: Er vertraute darauf, dass jeder Mensch die Lösung bereits in sich trägt. Diese Haltung verändert alles. Denn sie kehrt das Verhältnis um – weg vom „Ich muss mich reparieren“ hin zu „Ich darf mich erinnern“.
Vertrauen beginnt mit Freundlichkeit – besonders dir selbst gegenüber. Vielleicht spürst du noch oft, dass du dich ablenkst, wieder im Funktionsmodus landest oder dich selbst übergehst. Das ist menschlich. Es ist kein Rückschritt, sondern ein Zeichen dafür, dass du achtsamer geworden bist. Jedes Mal, wenn du innehältst, atmest, schreibst oder einfach bemerkst, dass du dich verloren hast, übst du Vertrauen.
Du sagst innerlich: Ich bin da. Ich darf fühlen. Ich darf langsam sein.
Mit der Zeit verwandelt sich diese Praxis in eine Lebenshaltung:
Du beginnst, dem Leben zuzuhören, statt es zu planen. Du reagierst weniger, und nimmst mehr wahr. Du erkennst, dass Lebendigkeit nicht im Tun liegt, sondern im Dasein.
Vielleicht ist das der wahre Schritt vom Funktionieren ins Vertrauen – nicht, alles anders zu machen, sondern dich selbst wieder liebevoll anzunehmen – mit allem, was gerade ist.
Impuls zum Schluss: Wie möchtest du dich morgen fühlen?
Veränderung beginnt selten mit großen Entscheidungen. Oft entsteht sie in den leisen Momenten, in denen du innehältst – zwischen zwei Atemzügen, zwischen zwei Gedanken, zwischen all dem, was du tust. Genau dort wächst das Neue: unaufgeregt, natürlich, echt.
Vielleicht magst du dir zum Abschluss eine einfache Frage stellen:
Wie möchte ich mich morgen fühlen?
Nicht: Was will ich morgen schaffen?
Nicht: Wie kann ich besser funktionieren?
Sondern wirklich: Wie möchte ich mich fühlen? – ruhig, frei, lebendig, verbunden?
Und dann wähle eine kleine Geste, die dich diesem Gefühl näherbringt:
- Nimm dir am Morgen drei bewusste Atemzüge, bevor du das Handy einschaltest.
- Schreib am Abend zwei Sätze darüber, was heute schön war.
- Leg für einen Moment die Hand auf dein Herz und sag dir: Ich bin da.
Diese kleinen Momente sind keine Nebensache. Sie sind Wegmarken – zurück zu dir selbst. Denn jeder Atemzug, jedes Wort, jeder liebevolle Gedanke ist eine Erinnerung an deine Lebendigkeit.
Vielleicht wirst du nicht sofort „mehr fühlen“. Vielleicht braucht es Zeit. Aber jedes Mal, wenn du still wirst, schenkst du dir die Möglichkeit, dich wieder zu spüren – und das ist der Anfang von allem.
„Vielleicht beginnt dein Weg zurück zu dir genau in dem Moment,
in dem du dich entscheidest, wieder zu fühlen.“